Ursprünglich wollten wir im Spätsommer die Westküste der USA besuchen, aber irgendwas hinderte uns daran. Zum Glück, stattdessen radelten wir an der Ostseeküste Deutschlands. Ein Träumchen, wie sich herausstellen sollte.
Wie heißt es so schön, erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. An sich wollten meine Frau Petra und ich in Landschaft schwelgen und den Westen der USA besuchen. Es sollte anders kommen, und in Landschaft geschwelgt haben wir. Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah?
Offenbar hatten wir den richtigen Corona-Riecher und buchten schon im Februar unsere Hotels und Pensionen entlang des Ostseeradwegs, der uns im September von Lübeck bis an die polnische Grenze bei Ahlbeck führen sollte.
Mit dem Zug nach Lübeck
Gibt man in GoogleMaps diese Fahrradroute einschließlich Rügen ein, werden etwa 400 km angezeigt. Das liest sich mit ein paar „stationären Urlaubstagen“ und einem Zeitbudget von insgesamt 17 Tagen (mit An- und Abreise) auch für Freizeitradler mehr als machbar. Um es vorweg zu nehmen, es wurden 750 Kilometer, wir haben uns nicht verfahren und haben keinen Meter bereut.
Jetzt geht’s los ..! Was hatte ich mir im Vorfeld für Gedanken gemacht. Welches Fahrrad nimmt Petra, ihr eigenes Kompakt-E-Bike mit 20“ Reifen, auf dem sie sich super wohl fühlt oder von einem Freund ein gutes Lastenrad leihen, das viel Gepäck tragen kann? Wie wird das Wetter, wieviel Gepäck brauchen wir und klappt bei mir die Umrüstung auf Tubeless-Reifen? (Anmerkung: schlauchlose Reifen in Verbindung mit Dichtmilch.)
Meinem lieben Kollegen Robert sei Dank, ging Letzteres sehr geschmeidig über die Bühne, und so fuhren sich auch die 40mm Schwalbe G-ONE Allround Reifen. Wie sich herausstellen sollte, genau die richtige Wahl für das teilweise mörderische Pflaster im Osten der Republik. Die obligaten Packtaschen passten auf Petras Gepäckträger, also fuhr sie ihr i:sy E-bike. Zuletzt stopfte ich noch ein Schwalbe Pannenset und die Regenklamotten in die Tasche, um nach der Reise festzustellen, dass wir beides nie gebraucht haben.
Als wir endlich um kurz nach sechs Uhr morgens im Regioexpress von Ludwigsburg nach Würzburg saßen, fiel die erste Anspannung ab – jetzt konnten wir nichts mehr ändern. Nach einer Kaffeepause in Würzburg sausten wir in einem einzigen weiteren Rutsch im lange vorher gebuchten ICE nach Lübeck. Die wunderschöne Stadt bot mit ihrer beeindruckenden Backsteinarchitektur und den sogenannten Buden einen wunderbaren Vorgeschmack auf die weitere Tour. Auch kulinarisch mit sooo leckerem Hering mit herrlich krossen Bratkartoffeln.
Unsere erste Etappe an den Timmendorfer Strand führte in Lübeck durch pittoresque Gewerbegebiete, begleitet von Öltanker-LKWs und einer nervigen Verkehrsführung. Als wir dann ein Autobahnschild erblickten, konnte es nur besser werden. Und so geschah es – wenn man Hotelburgen und Shopping-Center mag. Wir suchten Natur pur und fanden den Timmendorfer Strand. Der Rest war Schweigen. Nie mehr, da kann hingehen wer will, wir nicht! Weiter ging es zum touristischen Hotspot Travemünde, der in puncto Hotelanlagen dem Timmendorfer Strand in nichts nachsteht.
Mit der Fähre setzten wir über nach Priwall, womit wir erstmals die Grenze zur ehemaligen DDR überschritten. Von der Fähre hatten wir einen tollen Blick auf die legendäre Viermastbark PASSAT, die dort nach insgesamt 39 Kap Horn-Umsegelungen und vielen Tausend Seemeilen in Ruhestand liegt.
Und endlich eröffnete der weitere Weg zu unserem ersten Etappenziel die lang ersehnten Ausblicke aufs Meer und schöne Radwege durch wechselnde Vegetationen. Im beliebten Ostseebad Boltenhagen schlenderten wir an der Promenade entlang, gingen auf die Seebrücke und genossen einen wunderbaren Sonnenuntergang. So fühlt sich Urlaub an!
Dass wir am Morgen im Hotel zum Frühstück Corona-bedingt durch Anstehen, Registrierung und Bestellung rund 40 Minuten brauchten, um endlich ins Brötchen beißen zu können, sei nur am Rande erwähnt. Naja, das Warten hat sich gelohnt.
Die wunderbare Hansestadt Wismar am Ostsee-Radweg
Die weitere schöne wie abwechslungsreiche Tour führte uns auf ruhigen Wegen in die ehemalige Hansestadt Wismar, in deren Zentrum wir ein nettes Quartier fünf Minuten vom Hafen und dem historischen Markplatz bezogen. Das sehr ansprechende Wismar erkundeten wir zu Fuß. Gut so, denn wer hier (trotzdem) Fahrrad fährt, ist Held im Alltag und kann das angesichts des historischen Kopfsteinpflasters eigentlich nur mit einem Fatbike mit ultrabreiten Reifen bewältigen. Beim Abendessen saßen wir mit vier Fremdenführern am Tisch, die alle von ihrem Spezialgebiet berichteten, sodass wir einen ebenso fröhlichen wie lehrreichen Abend hatten.
Weiter ging es wunderbare 60 Kilometer bei Sonne und leichtem Rückenwind über die unspektakuläre aber schöne Insel Poel nach Rerik. Da Petra ständig möglichst nah am Wasser fahren wollte, blieb es nicht aus, dass wir auch die eine oder andere Schiebepassage durch tiefen Sand am Strand bewältigen mussten. Die ungleiche Gewichtsverteilung von gut 16 kg Gepäck auf dem Hinterrad machte dieses Unterfangen nicht leichter, aber es hat sich immer gelohnt.
Was kann ich über den Ostseeradweg sagen? Die Route war angesichts ständig wechselnder Eindrücke nie langweilig. Mal ging es durch schier endlos weite Felder, deren Größe dem Erbrecht und der damit verbundenen Höfeordnung geschuldet ist, durch Wälder mit Farnen und Eichen oder am Meer entlang mit herrlichen Ausblicken auf die beindruckenden Steilküsten und die meist menschenleeren Strände.
Wir konnten uns kaum an dem Grün mit der reichen Flora sattsehen. Wildromantische Steilküsten und Naturstrand wechselten sich genauso ab, wie rauschende Ostseebrandung und ruhiges Wasser im Haff. Für mich als Segler war „Schiffchen gucken“ in den vielen Häfen immer interessant. So zerdrückte ich angesichts der idealen Reviere zum Segeln und Surfen heimlich so manche Träne.
Mit Stralsund führte uns der Ostseeradweg in eine toll herausgeputzte Stadt mit sehr nettem Ambiente. Historische Gebäude, ehemalige, zu Lofts oder Hotels umgebaute Speicher und mittendrin das futuristisch anmutende Ozeaneum verleihen der Stadt ein einmaliges Flair. Die netten Hafenbars und Restaurants, teilweise mit Blick auf die beeindruckende Gorch Fock II, taten ein Übriges.
Von Stralsund zur Insel Rügen…
Von Stralsund führt ein sehr langer Damm auf die Insel Rügen. Dass Rügen über eine eher bescheidene Fahrradinfrastruktur verfügen soll, hatte ich in älteren Publikationen gelesen. In neueren, es sei besser geworden. Milde gesagt, hat Rügen diesbezüglich noch sehr viel zu tun. Wenn man richtig sucht, kann man fündig werden und erlebt dann eine einzigartig schöne Insel, die weit mehr als die drei Tage Aufenthalt verdient, die wir dort verbrachten. Über Rügen könnte ich angesichts der seltsamen, aus dem zweiten Weltkrieg stammenden KdF-Siedlung in Prora, der klassizistischen Planstadt Putbus, den (komplett überlaufenen) Seebädern wie Sellin oder den wunderbaren Naturschutzgebieten, ein Buch schreiben. Und wenn ich das alles so Revue passieren lasse, merke ich, ich muss da unbedingt nochmal hin.
Ein weiteres Highlight war unter anderem das Hotelschiff Stinne in Wustrow, wo die schönsten reetgedeckten Häuser standen. Dazu die einzigartige geschützte Fauna und Flora der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst. Da steht man und schaut und staunt. Weites Meer und ruhiger Bodden. Wer hier nicht zur Ruhe kommt, dem kann wahrscheinlich kein Arzt helfen.
Von Putbus auf Rügen ging es zur Fähre, die uns aufs Festland brachte. Das folgende Elend unbeschreiblich schlechter Betonpisten Richtung Greifswald, bei denen man ständig in Langlöcher knallt, bis die Birne weich ist, war einzigartig. Die weiteren 20 Kilometer Kopfsteinpflaster taten ihr Übriges. Himmel hilf, kann man da nicht mal einen Asphaltstreifen auftragen? Wie mir ein Einheimischer berichtete, anscheinend nicht. Danke Herr Bürgermeister von Greifswald. Radler sind dort offenbar nicht erwünscht.
Erst ein XL-Softeis und ein leckerer Espresso Macchiato hoben meine Laune am netten Museumshafen. Der etwas schäbige Eindruck von Greifswald und die Übernachtung in einem richtig hässlichen Zimmer in „verkehrsgünstiger Lage“ ließ uns die Universitätsstadt leichten Herzens durch häufig unberührte Natur, über Lubmin und Peenemünde Richtung Wolgast verlassen. Dass wir dabei ausgerechnet ein Schloss Ludwigsburg passierten, das zu den letzten vorhandenen Renaissancebauten der pommerschen Herzöge gehört, war angesichts unseres Startortes Ludwigsburg mit dem bekannten Barock-Schloss schon amüsant. Und nein, wir sind nicht im Kreis gefahren!
Der Ortskern von Wolgast war eine regelrechte Puppenstube, geradezu prädestiniert als Kulisse für historische Filmspektakel. Schade, aber irgendwie symptomatisch für viele Orte, das große Schulgebäude stand leer, dem Bläserquintett auf dem Turm der St. Petri Kirche lauschten keine fünf Personen und wir hatten alle Mühe, abends eine Kneipe oder ein Restaurant für einen Schlummertrunk zu finden.
Endlich in Ahlbeck!
Nach gut zwei Wochen führte uns die finale Etappe zu unserem Zielort Ahlbeck, der mit den Seebädern Bansin und Heringsdorf über eine gut sechs Kilometer lange durchgehende Uferpromenade mit Strand „satt“ verfügt. Wer die Seebrücke in Heringsdorf im Ganzen begeht, ist mit 1.016 Metern über einen Kilometer gelaufen und kann ein beeindruckendes Panorama genießen. Von Genuss waren wir im nur einen guten „Steinwurf“ von Ahlbeck entfernten polnischen Swinemünde meilenweit entfernt. Das lag wohl daran, dass wir weder billige Jeans noch Zigaretten kaufen wollten und trotz guten Willens keinen sonstigen Charme fanden.
Am Vorabend unserer Abreise genossen wir zum letzten Mal eine dieser phantastischen Fischmahlzeiten, von denen ich kaum den Hals voll kriegen konnte. Was gäbe ich, wenn es im Großraum Stuttgart so ein Spezialitätenrestaurant zu den Preisen gäbe, wie beispielsweise Domke‘s Fischhus in Ahlbeck. Genauso vermisse ich die köstlichen Heringsbrötchen, die irgendwo im hinterletzten Winkel mit Seeblick 2,50€ kosteten, während sie in einem überfüllten Seebad teuer und bei weitem nicht so gut waren.
Nach meiner Einschätzung ist der Ostseeradweg so leicht und abwechslungsreich zu fahren, dass er für Freizeitfahrer jeden Alters und auch für Familien mit Kindern bestens geeignet ist. Für Letztere liegt das Abenteuer am Wegrand oder vor der Tür. Wir starteten morgens um etwa 10 Uhr und radelten eine Weile bis zur Kaffeepause.
Dann fuhren wir weiter bis zur Mittagspause mit Fischbrötchen. Danach radelten wir eine Weile bis zur Kaffeepause. Im Ernst, die Etappen schwankten zwischen 40 und 80 Kilometer, was bei dem flachen Terrain mit etwas Sitzfleisch gut zu bewältigen war.
Ende gut, (fast) alles gut? Wir hatten großes Glück, keinen Regen und keine Panne gehabt zu haben. Außerdem wurden wir nicht von etwas „unkoordinierten Freizeitfahrern“ umgenietet, die sich über unser Tempo wunderten, das mit einem Schnitt von ca. 16 km/h wirklich sehr moderat war. Unser Geheimnis: Wir haben so viel Pausen gemacht und die Landschaft genossen, deshalb waren wir fitter!
Der Rückweg per Bahn über Berlin und Würzburg war mit elf Stunden mit Maske die härteste Prüfung der Reise. Ok, man kann nicht nur Glück haben. Ich war froh, dass meine Frau die Radreise nicht nur mitgemacht, sondern diese ihr so gut gefallen hat, dass wir jedes Jahr etwas Ähnliches unternehmen wollen. Na also, doch nur Glück gehabt!
Ellen Rath says
Lieber Conny,
vielen Dank für deinen sehr interessanten Reisebericht.
Mir hat es in Ahrenshop seht gut gefallen.
Freue mich schon auf deine nächste Berichtserstattung.
Liebe Grüße
Ellen 😊